Friday, April 30, 2010

Ajami


Was zunächst wie ein beinahe herkömmlicher Film über mafiöse Bandenkriege und blutige patrimoniale Rituale beginnt, entpuppt sich im Laufe der fünf inhaltlich äußerst komplexen Episoden als ein vielschichtiges Portrait israelisch-arabischer Realität. Scandar Copti und Yaron Shani haben mit Ajami ein lebhaftes Bild über den Alltag im gleichnamigen Stadtteil von Jaffa entworfen, das anhand ineinander verwobener Familiengeschichten erzählt wird. Es ist eine jener Gegenden, die in Fernsehnachrichten meist auf Morde, Raubüberfälle und Drogenhandel reduziert werden. Welche Motivationen hinter diesen Geschehnissen stecken, wird in Ajami durch die Innensicht verschiedenster Milieus – israelische Araber christlichen und muslimischen Glaubens, palästinensische „Illegale“, orthodoxe und säkulare Juden, Beduinen – gezeigt, die sich ihrerseits als extrem vielschichtig erweisen. Um sich oder ihren Angehörigen überlebenswichtige Vorteile zu verschaffen, bedienen sich die Charaktere nicht selten illegaler Mittel und geraten dadurch mal mehr, mal weniger zufällig auf die schiefe Bahn und damit in für sie nicht mehr kontrollierbare Halbwelt von Drogendeals und Clanfehden: so etwa Omar, um sich aus einer arabischen Blutfehde freizukaufen und der illegal in Israel arbeitende Malek, der den Krankenhausaufenthalt seiner Mutter finanzieren muss. Die Grenzen zwischen Tätern und Opfern, die hier Haus an Haus leben, verschwinden oft schon in der nächsten Episode. Auf engstem Raum wirken sich so die verschiedenen Geschehnisse unmittelbar auf andere Communities aus.

Wie sehr die Regisseure mit den Erwartungshaltungen der Zuschauer spielen, zeigt sich in der nicht chronologischen Erzählweise, den räumlichen Handlungssprüngen und der Schaffung beinahe voyeuristischer Momente: völlig unerwartet kommt es zu spontanen Handgemengen und Stechereien. Der oft hektische Schnitt, die wechselnden Kameraperspektiven sowie die Licht- und Farbgebung verleihen „Ajami“ einen dokumentarischen Charakter. Verstärkt wird diese fast schon naturalistische Darstellung durch den Einsatz von Laienschauspielern, die, entsprechend der Handlung im jeweiligen Milieu, untereinander Arabisch oder Hebräisch sprechen. Ästhetisch erinnert dies sehr an die frühen Filme von Pasolini sowie die sozialrealistischen Filme des Free Cinema.



Was Ajami neben der Erzählweise der Alltagskonflikte besonders interessant macht, sind die alltäglichen Berührungen abseits des politischen Hintergrundes und gängiger Nachrichtenklischees. Trotz vereinzelter tagespolitischer Bezüge (etwa der Polizist Dando, der mit dem Verschwindens seines Bruders, einem Soldaten der israelischen Armee, ringt), entspringen Differenzen und Konflikte eher existienziellen Bedürfnissen oder den Emotionen der Charaktere. Als Hemmnisse erweisen sich weniger die regelmäßigen Polizeikontrollen und -durchsuchungen, sondern überkommene Traditionen und quasi-feudalistische Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse. Wenn sich etwa Omar und seine Geliebte Hadir, Tochter seines herrischen Arbeitsgebers Abu-Elias, in der Nachbarstadt Tel Aviv auf klandestine Treffen beschränken müssen, um ihr Privatleben abseits patriarchalisch-religiöser Vorgaben ausleben zu können, bekommt man das Gefühl, sich zusammen mit den Protagonisten in einer gänzlich anderen Welt zu befinden, die nur als zeitweiliger Fluchtpunkt aus dem äußerst eingeengten Klimas Ajamis zugänglich ist.

Ajami (ISR 2009), Regie / Drehbuch: Scandar Copti, Yaron Shani, Darsteller u.a.: Fouad Habash, Eran Naim, Youssef Sahwani, Ibrahim Frege, Hilal Kabob, Ranin Karim